C. Ward: The Building of BAM and Late Soviet Socialism

Cover
Titel
Brezhnev's Folly. The Building of BAM and Late Soviet Socialism


Autor(en)
Ward, Christopher J.
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 218 S.
Preis
$ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Grützmacher, Landeskirchliches Archiv Stuttgart

Die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) kann mit einigem Recht als das bedeutendste Großprojekt der Breschnev-Ära bezeichnet werden. Das vorliegende Buch behandelt den Bau dieser nördlich der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Sibirien verlaufenden Bahnstrecke in den Jahren 1974 bis 1984. Sie wurde mit ungeheurem Aufwand als „Bau des Jahrhunderts“ inszeniert und unter Einsatz immenser wirtschaftlicher und personeller Mittel errichtet. Offiziell waren es vor allem begeisterte jugendliche Freiwillige, die nach Sibirien reisten, um mit dem Bau der BAM den Weg in den Kommunismus vollends zu ebnen. Die katastrophalen Bedingungen vor Ort, die Unterfinanzierung, organisatorische Mängel und Korruption ließen den Bau aber bald im Chaos versinken. Die ihr zugedachte wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung hat die BAM nie erreichen können.

Christopher Ward interpretiert dieses Vorhaben nun in erster Linie als "folly", als Dummheit. Er kontrastiert den propagandistischen Anspruch des Projekts mit der Realität, wie sie sich ihm in Archivdokumenten (vor allem des Komsomol), Zeitungsartikeln und Gesprächen mit einigen Beteiligten darstellt, und kommt damit überzeugend zu dem Schluss, der Bau der BAM sei gescheitert. Dieses Scheitern habe entscheidend zur Legitimationskrise und letztlich auch zur Implosion des sowjetischen Systems beigetragen.

Ward spielt diese These an fünf Themenbereichen durch. Zunächst stellt er dem „prometheischen“ Weltbild eines Kampfes gegen die Natur die vorsichtigen Anfänge eines ökologischen Diskurses gegenüber. Während vor allem Propagandisten und Entscheider in Moskau den Prometheismus vertreten hätten, habe sich bei lokalen Kräften in der Konfrontation mit den ökologischen Realitäten vor Ort ein Umweltbewusstsein entwickelt, das die ökologischen Diskussionen der Perestroika vorweggenommen und eigentlich auch erst ermöglicht hätte.

Verbrechen und Korruption im BAM-Alltag stellen den zweiten Interessenschwerpunkt der Arbeit dar. Die Ausführungen hierzu bilden einen der besten Abschnitte des Buchs. Hier zeigt sich Wards Stärke, Archivdokumente fantasievoll gegen den Strich zu lesen. Auch die (methodisch insgesamt wenig transparente) Befragung von Zeitzeugen trägt zur Farbigkeit des Kapitels bei. Ward zeichnet ein düsteres Bild der BAM-Zone, in der Verbrechen, sexuelle Übergriffe, Besäufnisse und Korruption an der Tagesordnung waren, wobei die Sicherheitsorgane kräftig mittaten.

Das darauffolgende Kapitel handelt von den Frauen an der BAM. Sie wurden in der Propaganda zwar gerne als BAM-Heldinnen dargestellt, faktisch herrschte an der BAM aber ein frauenfeindliches Klima. Frauen bekamen die weniger glamourösen und schlechter bezahlten Jobs, litten angesichts der schlechten Infrastruktur für Familien noch mehr als sonst unter der Doppelbelastung von Beruf und Haushalt und waren Opfer einer Kultur sexueller Aggression. Wenn sie dann doch einmal in höhere Ränge aufstiegen, so zeigt Ward an einem Beispiel, litten sie unter Mobbing.

Auch die Propagierung der BAM als Schmelztiegel des sowjetischen Vielvölkerstaats – Wards vierter Themenschwerpunkt – blieb eine Fiktion. Die verschiedenen Nationalitäten arbeiteten mitnichten gemeinsam an der BAM, sondern streng ethnisch getrennt, wobei die auch zahlenmäßig dominanten Slawen durchweg höhere Posten innehatten. Die zwischenethnischen Friktionen, wie sie beim Zerfall der Sowjetunion zutage traten, zeigten sich schon im Alltag der BAM. Auch hier beweist Ward ein gutes Auge für Zwischentöne in den Quellen, schießt aber übers Ziel hinaus, wenn er schließlich jede Meldung durch die Nationalitätenbrille liest.

In einem letzten Abschnitt wendet sich Ward dem eher marginalen Thema der internationalen Zusammenarbeit an der BAM zu, die zur Diskreditierung des Projekts und damit der ganzen Sowjetunion beigetragen habe. Das Verhalten der Repräsentanten der BAM im Ausland hätte dies ebenso befördert wie der desolate Zustand des Projekts, mit dem die Freiwilligen aus den sozialistischen Bruderstaaten konfrontiert worden seien. Das mag stimmen, auch wenn solche Begegnungen und studentischen Sommereinsätze von den Beteiligten wohl wenig ernst genommen wurden. Vor allem aber spielte internationale Zusammenarbeit an der BAM nur eine untergeordnete Rolle. Der ungleich größere Beitrag etwa der Eisenbahnsoldaten, die die halbe Strecke der BAM zu bauen hatten, kommt dagegen bei Ward gar nicht zur Sprache.

Christopher Ward ist mit „Brezhnev's folly“ eine sehr anregende Arbeit geglückt. In ausgewählten Bereichen gelingt es ihm eindrucksvoll, kultur- und sozialgeschichtliche Ansätze zu verknüpfen und die inszenatorischen Absichten des Projekts mit sozialen Praktiken zu kontrastieren. Er gelangt so zu einem dezidiert kritischen Urteil und analysiert die BAM als einen Schritt zum Verfall des sowjetischen Systems.

Nun hat das Buch aber auch eine grundlegende Schwäche. Wards Fokus ist sehr eingeschränkt. In seine Darstellung findet nur das Eingang, was im engeren Sinne zu den fünf beschriebenen Themenfeldern gehört (deren Auswahlkriterien nicht genannt werden). Die Untersuchung beruht auf einer mit großem Fleiß zusammengetragenen Quellengrundlage, aber man hat das Gefühl, dass die nahe liegenden Fragen nicht gestellt werden: Ward formuliert kaum Überlegungen zur Struktur, zu den Akteuren, Themen und Grauzonen des Diskurses, den er analysiert. Grundlegende Entwicklungen – Fragen nach dem durchaus nicht eindeutigen geografischen Verlauf der BAM, nach der demografischen Struktur oder Motivation der Bauleute usw. – werden kaum thematisiert. Die Vorgeschichte der BAM als eines der größten stalinistischen Lagerkomplexe (BAMLag) wird in einem Nebensatz abgehandelt, mit dem Projekt verbundene wirtschaftliche und soziokulturelle Planungen werden nicht dargelegt, sondern unter der schwachen Formel vom "Pfad zum Kommunismus" subsummiert. Wer sich über grundlegende Fragen des BAM-Projekts informieren will, müsste eher zu den mitunter ausgezeichneten älteren geografischen und soziologischen Arbeiten greifen.1 Die Zielsetzung des Projekts und der BAM-Diskurs überhaupt waren weit vielschichtiger und differenzierter, als das bei Ward zur Geltung kommt.

Vor allem aber zeigt sich Wards eingeschränkter Blick daran, dass er die Entwicklungen an der BAM nicht ausreichend kontextualisiert. Indem er beispielsweise die Umweltdiskussion der 1960er-Jahre, die Charakteristika technischer Großprojekte oder die Diskussion um Entideologisierung und Delegitimierung der sowjetischen Herrschaft der Breschnew-Ära kaum oder gar nicht in den Blick nimmt, neigt er dazu, die Bedeutung der BAM zu überschätzen. In vielem war die BAM eher Ausdruck und allenfalls Katalysator sowjetischer Krisenentwicklungen als deren Motor.

Gelegentlich kann man sich bei der Lektüre des Buches zudem des Eindrucks einer gewissen handwerklichen Nachlässigkeit nicht erwehren. Zum Beispiel stehen die Abbildungen in keiner Beziehung zum Text, Abbildungsnachweise gibt es nicht, Literatur- und Archivbelege sind spärlich und wenig konkret. Wards freimütiger Umgang mit persönlichen Angaben auch aus dem Intimbereich nicht anonymisierter Beteiligter ist außerdem wohl nicht mit dem russischen Archivrecht vereinbar.

Bei aller Kritik bleibt festzuhalten, dass Ward hier eine fleißig recherchierte, originelle und anregende Studie vorgelegt hat, die mit ihrer Freude an zuspitzenden Hypothesen geeignet ist, der Erforschung sowjetischer Zeitgeschichte wichtige Impulse zu geben.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch Victor Mote, BAM, Boom, Bust. Analysis of a Railway's Past, Present, and Future, in: Soviet geography 31 (1990), S. 321-331, und Bernd Knabe, Die Baikal-Amur-Magistrale. Ihr Bau und die Erschließung ihres Umlandes, in: Osteuropa 34 (1984), S. 426-439.